nun schneit es wieder gips (das ist kalziumsulfat) von der tafel gesetz + natur sogenanntes – das ganze verkehrte wesen ein bloßes experimentieren im staub diese trockenen
teilchen + formeln über die du dich hinwegsetzt im gespräch über weltgeschichten mit den bank- nachbarn steckst du die köpfe zusammen: märchen und
gedichte ein leises muster kleiner stimmen überlagert von vorne der vortrag unterbricht das kreischen der kreide die rechnet vom vortag noch müde
fehlen dir jetzt verstand und verständnis für eine doppelte natur von welle + teilchen sich abwechselnde licht- und schatten-
streifen durch die lamellen vorm klassenfenster fällt dein blick aus den gläsern die blenden geöffnet ins schulbuch: die zahlen und figuren
blind im papier verraten sich physik + kreide dir im gespräch in einem geheimen wort
Christoph Wenzels Gedicht "kreidephysik" zu verstehen geht am besten, wie der Untertitel schon sagt, "mit novalis". Der Romantiker, mit eigentlichem Namen Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, hatte um 1800 die folgenden programmatischen Verse geschrieben:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit werden gatten, Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.
aus: Novalis: Schriften, Paul Kluckhohn u. Richard H. Samuel, W. Kohlhammer, 1960, S. 344. Eine gute Analyse dieses Gedichts im Überblick hat Dr. Susanne Raabe visualisiert: http://www.digitale-schule-bayern.de/dsdaten/587/585.pdf