Fachdidaktik Deutsch Vormbaum

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März 2015: Morgens

das Wasser aus dem Hahn
schmeckt abgestanden, fast
wie Blumenwasser, spuck es aus
                                                                                   pssst
das Müllauto holt die Tonnen ab,
es scheppert, ich mache das Fenster
zu

im Radio redet ein Pfarrer über
Triebe, Ausgeburten der Hölle,
ich schalte ihn aus

auf dem Tisch liegt die Zeitung,

ein Bild zeigt
eine nackte Frau

schweigend
lege ich einen Sack
über meinen Kopf

 

 

 

Dieses Gedicht geht so gar nicht in dem Ausspruch auf, dass die Welt morgens noch in Ordnung ist. Denn wie immer sich auch die Welt in diesem Text bemerkbar macht, es scheint dem lyrischen Ich zu missfallen: Das Leitungswasser schmeckt fad, das Müllauto macht Lärm, ein Pfarrer predigt im Radio und eine Frau stellt ihre Nacktheit in der Zeitung zur Schau. Dem lyrischen Ich sind all diese Begegnungen mit der Außenwelt zuwider, es will jeglichen sinnlichen Eindruck vermeiden, es will nicht schmecken, nicht hören, nicht verstehen und nicht sehen. Die Folge ist, dass es sich vollständig abschottet, schließlich auch auf Kosten des eigenen Ausdrucks. Das Gedicht endet bezeichnenderweise damit, dass sich das Ich schweigend einen Sack über den Kopf legt. Man fühlt sich bei diesem Text unwillkürlich an das Sinnbild von den drei Affen erinnert, von denen der eine mit den Händen die Ohren verschließt, ein weiterer die Augen bedeckt und ein dritter sich den Mund zuhält. Die dem Buddhismus entlehnte Trias ist gewissermaßen die verbildlichte Weiterführung des heute in Vergessenheit geratenen Sprichwortes: „Audi, vide, tace, si tu vis vivere pace.“ („Höre, sieh und schweige, wenn du in Frieden leben willst.“) Die Frage ist nur, ob dieses Gedicht der Distanz, dem Desinteresse und der Teilnahmslosigkeit wirklich das Wort reden will. Schaut man einmal genauer hin, dann sind all die Dinge, die auf das lyrische Ich eindringen, eigentlich das Ergebnis von Errungenschaften aus der zeitgenössischen Zivilisation. Das Trinkwasser wird ins Haus geleitet, der Müll mit dem Auto abgeholt, Rundfunk und Zeitung sorgen für Bildung und Information. Für alle Grundbedürfnisse des Lebens gibt es einen Dienstleister oder ein Medium, für alles ist reibungslos gesorgt, alles kommt quasi frei Haus, selbst die Prostitution und die Moral dagegen. Der Mensch sieht sich förmlich umzingelt von Einrichtungen, die sich für ihn ins Mittel legen und ihre Dienste anbieten. Es ist eine Welt, die nicht mit Reizen geizt, sondern den Menschen mit allem mehr oder weniger Wichtigen überflutet. Dieser Invasion standzuhalten ist nur schwer möglich, fast scheint es, als gäbe es nur den Ausweg, sich radikal abzuschotten, die Verbindung nach außen zu kappen und alle Sinne zu verschließen. Was in diesem Gedicht fehlt, ist die Erfahrung von Unmittelbarkeit. Geht man von seinem Titel aus, so verbindet man mit der Frühe des Morgens eigentlich das Frische und Unverbrauchte, die Sinne sind ausgeruht und ein neuer Tag erwacht. Hier aber wird das lyrische Ich mit bereits vorgeformten Installationen, Abläufen und Erzeugnissen konfrontiert. Das Ich trifft nicht auf Natürliches und Ursprüngliches, es schöpft das Wasser nicht aus der Quelle, es geht nicht auf einem konkreten Menschen ein, dessen Meinung es anhört oder dessen Körper es begehrt. Ohne Begegnung aber entsteht auch kein aktives Miteinander, alles bleibt „abgestanden“; auch das Ich handelt nicht in dem Sinne, dass es sich entäußert und aus sich heraus geht, sondern es bleibt passiv abwartend und nimmt die Dinge um sich herum nur widerwillig wahr. Bertolt Brecht hat eine Gedichttrilogie geschrieben, deren erster Teil mit einer bis in die Wortwahl frappanten Ähnlichkeit endet. Der Titel lautet „Frühling 1938“ (siehe Gedicht des Monats März 2014). Auch hier geht es um einen Morgen, es ist „Ostersonntag früh“, wie im tagebuchartigen Stil vermerkt wird. Der Ort des Gedichts ist eine Insel – Fünen, auf der sich Brecht im Exil aufhielt - und trotz des Frühlings ist der Winter noch einmal zurückgekehrt. Die lyrischen Zeilen beschreiben, wie der Sohn des Dichters diesen vom Schreibtisch, an dem er gerade ein politisches Gedicht gegen die deutschen Aggressoren verfasst, wegholt und zu einem Aprikosenbäumchen führt. Dann heißt es wörtlich: „Schweigend // Legten wir einen Sack // Über den frierenden Baum.“ Bei aller Ähnlichkeit werden doch auch die Unterschiede deutlich. Anders als in Roman Israels Gedicht geht es bei Brecht um unmittelbare Einflüsse. Das sensible Bäumchen ist von der Natur bedroht, der Sack soll es vor der Kälte schützen. Dabei steht die Naturgewalt, mit der der Winter hereinbricht, stellvertretend für die drohende Invasion des deutschen Militärs, dessen donnernde Schiffsgeschütze auf der Insel bereits vernehmbar sind, wie es im weiteren Verlauf der Trilogie heißt. In Roman Israels Gedicht geht dagegen die Bedrohung des einzelnen nicht elementar von der Gewalt der Natur oder des Krieges aus. Hier liegt die Gefahr viel versteckter im Alltag des zivilisatorischen Fortschritts. Es ist die Invasion des Medialen, die unaufhaltsam in die Individualsphäre eindringt, dem Menschen die Ursprünglichkeit einer konkret-sinnlichen Erfahrung nimmt, indem sie alles um ihn herum in Form von automatisierten Dienstleistungen und technischen Kommunikationsformen vermittelt.

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