Friedrich Gottlieb Klopstock: Landleben
Hier steh ich.
Rund um mich ist alles Allmacht!
Ist alles Wunder!
Mit tiefer Ehrfurcht,
Schau ich die Schöpfung an!
Denn du!
Namenlosester, du!
Erschufst sie!
Lüfte, die um mich wehn,
Und süße Kühlung
Auf mein glühendes Angesicht gießen,
Euch, wunderbare Lüfte,
Sendet der Herr! Der Unendliche!
Aber itzt werden sie still; kaum atmen sie!
Die Morgensonne wird schwül!
Wolken strömen herauf!
Das ist sichtbar der Ewige,
Der kömmt!
Nun fliegen, und wirbeln, und rauschen die Winde!
Wie beugt sich der bebende Wald!
Wie hebt sich der Strom!
Sichtbar, wie du es Sterblichen sein kannst,
Ja, das bist du sichtbar, Unendlicher!
Der Wald neigt sich!
Der Strom flieht!
Und ich falle nicht auf mein Angesicht?
Herr! Herr! Gott! barmherzig! und gnädig!
Du Naher!
Erbarme dich meiner!
Zürnest du, Herr, weil Nacht dein Gewand ist?
Diese Nacht ist Segen der Erde!
Du zürnest nicht, Vater!
Sie kömmt, Erfrischung auszuschütten
Über den stärkenden Halm!
Über die herzerfreuende Traube!
Vater! Du zürnest nicht!
Alles ist stille vor dir, du Naher!
Ringsum ist alles stille!
Auch das goldne Würmchen merkt auf!
Ist es vielleicht nicht seelenlos?
Ist es unsterblich?
Ach vermöcht ich dich, Herr, wie ich dürste, zu preisen!
Immer herrlicher offenbarst du dich!
Immer dunkler wird, Herr die Nacht um dich!
Und voller von Segen!
Seht ihr den Zeugen des Nahen, den zückenden Blitz?
Hört ihr den Donner Jehovah?
Hört ihr ihn?
Hört ihr ihn?
Den erschütternden Donner des Herrn?
Herr! Herr! Gott! barmherzig, und gnädig!
Angebetet, gepriesen
Sei dein herrlicher Name!
Und die Gewitterwinde? Sie tragen den Donner!
Wie sie rauschen! Wie sie die Wälder durchrauschen!
Und nun schweigen sie! Majestätischer
Wandeln die Wolken herauf!
Seht ihr den neuen Zeugen des Nahen,
Seht ihr den fliegenden Blitz?
Hört ihr, hoch in den Wolken, den Donner des Herrn?
Er ruft Jehovah!
Jehovah!
Jehovah!
Und der gesplitterte Wald dampft!
Aber nicht unsre Hütte!
Unser Vater gebot
Seinem Verderber
Vor unsrer Hütte vorüberzugehn!
Ach schon rauschet, schon rauschet
Himmel und Erde vom gnädigen Regen!
Nun ist, wie dürstete sie! Die Erd erquickt,
Und der Himmel der Fülle des Segens entladen!
Siehe, nun kömmt Jehovah nicht mehr im Wetter!
Im stillen, sanften Säuseln
Kömmt Jehovah!
Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens.
Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) > Biographie
Quelle: F.G. Klopstock, Ausgewählte Werke. Hrsg. v. K.A.Schleiden. München 1962, S. 85-89.
Diese 1759 entstandene Ode, die in einer geglätteten Version zwölf Jahre später unter dem Titel "Die Frühlingsfeyer" erschien, gilt in seiner fulminanten Subjektivität als maßgeblich und grundlegend für die literarische Strömung der Empfindsamkeit. Wie sehr es auf die Zeitgenossen gewirkt haben muss, wird in Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) deutlich. Dort schildert der Titelheld, wie er sich auf einer Tanzgesellschaft in eine junge Frau namens Lotte verliebt. Ein aufziehendes starkes Gewitter unterbricht das Tanzen, Lotte organisiert zur Ablenkung ein Spiel, in dem reihum immer schneller bis Tausend gezählt werden soll, wer einen Fehler macht, erhält von ihr zum Spaß eine kleine Ohrfeige.
„Ein allgemeines Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das Tausend angezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte sie: Über die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen! – Ich konnte ihr nichts antworten. – Ich war, fuhr sie fort, eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um den anderen Mut zu geben, bin ich mutig geworden. – Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erqickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand, auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte die Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder – [...]" (Aus dem Brief am 16. Junius. In: Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Mit einem Nachwort von Ernst Beutler, Stuttgart 1948, S.29.)
In beiden Texten ereignet sich ein schweres Gewitter. Nachdem sich im Roman Lotte und Werther mit einem Gesellschaftsspiel vom Gewitter abgelenkt haben, sehen sie aus dem Fenster das abziehende Unwetter und den „säuselnden Regen“. Wenn Lotte dann den Namen „Klopstock“ ausspricht, scheint sie sich genau auf die Stelle am Ende der Ode zu beziehen, als der Regen wie ein Segen die Erde tränkt. Ein klarer Beleg hierfür ist durch Goethes Übernahme der Wörter „Erquicken“ und „Säuseln“ gegeben. Wenn Lotte zuerst zum Himmel blickt und dann Werther anschaut und ihre Hand in die seine legt, dann erinnert das an das Schlussbild der Ode mit dem Regenbogen als Ausdruck des Friedens und der Harmonie zwischen Himmel und Erde. Sprechend ist auch die Verbindung des positiv konnotierten Regens (Segen, Erquicken, Säuseln) mit den Tränen (wonnevoll im Superlativ) beider: Klopstock wird zum anrührenden gemeinsamen Stichwort („Losung“), das die Tränen der Empfindsamkeit fließen lässt („versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß“) und eine zarte, aber innige Bande (vgl. „Bogen“) zwischen beiden knüpft.
An dieser Textstelle wird deutlich, wie sehr Klopstock - geradezu wie ein Codewort – für die Empfindsamkeit steht.