Schon nascht der Star die rote Vogelbeere,
Zum Erntekranze juchheiten die Geigen,
Und warte nur, bald nimmt der Herbst die Schere
Und schneidet sich die Blätter von den Zweigen,
Dann ängstet in den Wäldern eine Leere,
Durch kahle Äste wird ein Fluss sich zeigen,
Der schläfrig an mein Ufer schickt die Fähre,
Die mich hinüberholt ins kalte Schweigen.
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- Veröffentlicht: 03. Oktober 2015
Detlev von Liliencron, Dichter in der Spannung zwischen Naturalismus und Neuromantik, wurde 1844 geboren. Er starb im Alter von 65 Jahren an einer Lungenentzündung (zum Werk und zu den Lebensdaten siehe z.B. die digitale Literaturseite von Willi Vocke ). Im vorliegenden Gedicht zielen Bilder aus der Natur, Poesie und Mythologie treffend, wie ich finde, auf das, was der Stimmung im November im Kern zugrundeliegt: auf den Anflug eines Erschauerns vor dem Ende. Gleich in den Anfangszeilen scheint der Tod mit der roten Vogelbeere, die im Volksmund als giftig gilt, zu locken und als Spielmann mischt er sich in den Tanz zum Erntedank, der an das Lied aus "Des Knaben Wunderhorn" denken lässt: "Es ist ein Schnitter, der heißt Tod..." Dieser bedrohliche Zug erhält nun mit der Todesankündigung deutliche Konturen, zum einen hinterlegt als bekannter Hintergrundston "[ü]ber allen Gipfeln" ("Warte nur, balde // Ruhest du auch"), zum anderen präsentiert durch eine Bilderfolge, die dem Goetheschen Wald eine geradezu expressionistische Eigendynamik verleiht. Der personifizierte Herbst beginnt sich selbst zu entlauben, das furchteinflößende Ausmaß dieses Kahlschlags wird in der aktiv tätigen Leere wirksam, die den Blick auf den Acheron, den Todesfluss im griechischen Mythos, und seinen Fährmann, Charon, freigibt ... Man versteht hier, warum Liliencron für Dichter wie Hofmannsthal oder Benn ein Vorbild gewesen ist. Das acherontische Frösteln wurde zwischenzeitlich zum versteckten Insider-Bonmot in den von George gegründeten "Blätter[n] für die Kunst", heute freilich ganz vergessen.