Die Stadt ist oben auferbaut
voll Türmen ohne Hähne;
die Närrin hockt im Knabenkraut,
strickt von der Unglückssträhne
ein Hochzeitskleid, ein Sterbehemd
und alles schaut sie an so fremd,
als wär sie ungeboren.
Sie hat den Geist verloren,
er grast als schwarz und weisses Lamm
mit einem roten Hahnenkamm
hinauf zur hochgebauten Stadt,
weil er den harten Auftrag hat,
dort oben aufzuwachen.
Der Närrin leises Lachen
rollt abwärts durch das Knabenkraut
als Ein-Aug, das querüber schaut
teils nach dem Tod, teils nach dem Lamm,
dem schwarz und weissen Bräutigam
in feuerroter Haube.
Ihr Herz keucht innen rund herum
und biegt das Schwert des Elends krumm
und nennt es seine Taube.
Anmerkungen:
V. 2 Hähne - auf einem Turm angebrachte Wetterfahne in Gestalt eines Hahns
V. 3 Knabenkraut - im Volksmund für Gattungen der Orchidee
Deutung der Autorin: "Dieses Gedicht ist, wie fast alle anderen meiner Gedichte, der Versuch, eine - für mich notwendige - Selbstanklage verschlüsselt auszusagen." (aus Doppelinterpretationen. Hrsg. v. Hilde Domin, Frankfurt (Fischer Tb) 1969, S.107.)
Beda Allemann: Zu Christine Lavants Gedicht "Die Stadt ist oben aufgebaut" > http://www.planetlyrik.de/beda-allemann-zu-dem-g/2012/10/
Diese Interpretation ist auch in Hilde Domins Band "Doppelinterpretationen" abgedruckt.
Beatrice Eichmann-Leutenegger: Zu Christine Lavants Gedicht "Die Stadt ist oben aufgebaut" > http://www.planetlyrik.de/beatrice-eichmann-leutenegger-zu-christine-lavants-gedicht-die-stadt-ist-oben-auferbaut/2012/12/