Fachdidaktik Deutsch Vormbaum

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Die Fahrende

Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,
Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,
Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,
Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende,
Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.

Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,
Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch,
Hängt es auf einen Stecken, trügs an meinem Nacken,
Drin die Erdkugel mit geröteten Backen,
Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,Gertrud Kolmar Stolperstein
Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus;
Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,
Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen
Schöpft mein Reisebericht, trinke ich durstig aus.

Nackte, kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.

Die Autorin wird 1894 als Gertrud Chodziesner in Berlin geboren. Als Pseudonym wählte sie den Namen Kolmar - die deutsche Bezeichnung für Chodziesen, den Herkunftsort ihrer Vorfahren in der damaligen preußischen Provinz Posen. Bis auf wenige Aufenthalte in Hamburg und in Frankreich lebte sie bei ihren Eltern, die mit ihr 1923 nach Falkensee bei Spandau in die Villenkolonie Finkenkrug zogen. Nach dem Tod der Mutter 1930 versorgte sie den Haushalt und arbeitete als Sekretärin ihres Vaters, einem angesehenen Rechtsanwalt. Ab 1933 war sie als Jüdin zunehmenden Repressalien ausgesetzt. Infolge der verschärften Judenverfolgung wurden ihre Gedichtbände verramscht, der Vater musste das Haus in Falkensee verkaufen und Gertrud Kolmar wurde zur Zwangsarbeit verpflichtet. 1943 wurde sie verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie im März in der Gaskammer starb. Gertrud Kolmar gilt heute als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.

Das Gedicht "Die Fahrende" wurde 1933 veröffentlicht. Zeile 10 Kalvill - erlesene Apfelsorte. Zeile 18 Weiser - gemeint ist wohl "Wegweiser".

Siehe auch Gertrud Kolmars lyrische Zeilen "Krähen" als Gedicht des Monats September 2015: https://www.vormbaum.net/index.php/gedichte/306

Stolperstein in Falkensee
Vergänglichkeit
September 2015: Krähen

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