Fachdidaktik Deutsch Vormbaum

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Januar 2020: Einer Vorübergehenden

Es tost betäubend in der strassen raum.
Gross schmal in tiefer trauer majestätischFrau Jugendstil
Erschien ein weib · ihr finger gravitätisch
Erhob und wiegte kleidbesatz und saum ·

Beschwingt und hehr mit einer statue knie.
Ich las · die hände ballend wie im wahne ·
Aus ihrem auge (heimat der orkane):
Mit anmut bannt mit liebe tötet sie.

Ein strahl ... dann nacht! o schöne wesenheit
Die mich mit EINEM blicke neu geboren ·
Kommst du erst wieder in der ewigkeit?

Verändert · fern · zu spät · auf stets verloren!
Du bist mir fremd · ich ward dir nie genannt ·
Dich hätte ich geliebt · dich die’s erkannt.

Stefan Georges lyrischer Text ist eine  Nachdichtung des Gedichts „À une passante“ von Charles Baudelaire aus dem berühmten Gedichtband „Les Fleurs du Mal“ (entstanden 1857-1868).

Baudelaires Sammlung von 100 Gedichten hat die europäische moderne Lyrik nachhaltig geprägt und immer wieder zu Übersetzungen - auch in deutscher Sprache - angeregt. Anlässlich einer neuen Übersetzung von Simon Werle ist im Folgenden ein Auszug aus einem Beitrag von Jürgen Ritte unter dem Titel "Die Blumen des Bösen - neu übersetzt" abgedruckt, der im Deutschlandfunk am 20.8.2017 ausgestrahlt wurde und der die besondere Bedeutung dieser lyrischen Textsammlung auch mit Bezug zu dem Gedicht "Einer Vorübergehenden" hervorhebt:

"[...] Die Entdeckung der Geschwindigkeit mittels Dampfkraft und Lokomotive, die Gasbeleuchtung in der Nacht, das Aufkommen anonymer, aneinander vorbei gehender Massen in der Großstadt, die Einladung zum Flanieren, die Erfindung der Stadt als permanentem Spektakel ändert auf ganz entschiedene Weise die Wahrnehmungsmodalitäten. Nicht umsonst spricht Baudelaire vom Transitorischen, vom Ephemären, von dem, was kurz wie ein Versprechen aufleuchtet und wieder verschwindet. Eines der schönsten Gedichte der Fleurs du Mal trägt denn auch den programmatschen Titel A une Passante. „An eine Passantin“ heißt es in der neuen Übersetzung von Simon Werle. Friedhelm Kemp titelte in seiner Prosaversion der Blumen des Bösen aus dem Jahre 1975: „An eine, die vorüberging“. Bei Benjamin hieß es 1923 gar: „Einer Dame“. Hören wir nur die beiden letzten Strophen dieses Sonetts. Zunächst auf Französisch:

Un éclair ... puis la nuit! – Fugitive beauté
Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?
Ailleurs, bien loin d’ici! Tropt tard! Jamais peut-être!
Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
O toi que j’eusse aimée, ô toi que le savais!“

Das Gedicht spricht von dem blitzartigen Erscheinen und Verschwinden einer Frau inmitten des laut heulenden Großstadtlärms. In Friedhelm Kemps Prosa-Übertragung hören sich die letzten beiden Strophen so an:

Ein Blitz ... und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, soll ich dich in der Ewigkeit wiedersehen?
Anderswo, sehr weit von hier! Zu spät! Niemals vielleicht! Denn ich weiss nicht, wohin du enteilst, du kennst den Weg nicht, den ich gehe, o du, die ich geliebt hätte, o du, die es wusste!

Der Blitz, die Plötzlichkeit, die Flüchtigkeit des erfüllten Moments der Neugeburt – und dann das große Nimmermehr, die wohl vergebliche Hoffnung auf eine Ewigkeit, zu der die Zugangswege im Zeitalter der Wissenschaft, im Zeitalter der, wie Georg Lukacs einmal so glücklich formulierte, „transzendentalen Obdachlosigkeit“, endgültig verbaut sind. Davon – und von einigem anderen – sprechen diese Gedichte.[...]"

Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/buch-der-woche-gedichte-von-baudelaire-blumen-des-boesen.700.de.html?dram:article_id=393907

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